Helmut Schmidt, 1980 | Bildquelle: picture alliance/Ulrich Baumgarten

Besuch in einer Scheinwelt

1981: Bundeskanzler Helmut Schmidt in Güstrow

Helmut Schmidt (SPD) wurde 1974 nach dem Rücktritt von Willy Brandt fünfter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. In seine Amtszeit fielen wichtige wirtschafts- und europapolitische Weichenstellungen, die Terroraktionen der RAF im »Deutschen Herbst«, der NATO-Doppelbeschluss sowie die Parteigründung »Die Grünen«. Am 1. Oktober 1982 wurde er durch ein konstruktives Misstrauensvotum der CDU/CSU-Opposition im Bündnis mit der Mehrheit der FDP-Fraktion gestürzt. Wegen seiner staatsmännischen und volkswirtschaftlichen Fähigkeiten genoss Helmut Schmidt hohes internationales Ansehen.

Der Besuch war seit langem geplant und mehrfach aufgeschoben worden: Vom 11. bis 13. Dezember 1981 besuchte Bundeskanzler Helmut Schmidt die DDR. Es war nach Erfurt und Kassel das dritte deutsch-deutsche Gipfeltreffen. In den Gesprächen mit Erich Honecker, zunächst im Jagdschloss Hubertusstock am Werbellinsee und einen Tag später im Gästehaus des Staatsrates am Großen Döllnsee, ging es um strittige Fragen: Raketenrüstung, innerdeutscher Handel, Mindestumtausch, humanitäre Angelegenheiten, die »Respektierung« der DDR-Staatsbürgerschaft, die Elbgrenze, den Status der beiderseitigen Ständigen Vertretungen, die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter für Straftaten von Behörden und Organen der DDR. Die Positionen blieben gegensätzlich, eine Annäherung kam nicht zustande. Im Schlusskommuniqué betonten Schmidt und Honecker den Willen beider Staaten, »im Interesse von Frieden und Sicherheit in Europa und zum Wohle der Menschen in beiden deutschen Staaten die Bemühungen um gutnachbarliche Beziehungen stetig fortzuführen«. Schmidt selbst verband mit seinem Besuch die Hoffnung, dass sich das Treffen günstig auf die Menschen in beiden Staaten auswirken werde.

Im touristischen Teil seines Besuchsprogramms hatte Schmidt den Wunsch geäußert, dem Werk des Bildhauers Ernst Barlach im mecklenburgischen Güstrow seine Reverenz zu erweisen und den Kontakt zur DDR-Bevölkerung zu suchen. Vor dem Hintergrund dessen, was zur gleichen Zeit in Polen geschah – am frühen Morgen des 13. Dezember verhängte General Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen – brach Schmidt seinen Besuch nicht umgehend ab, sondern ließ sich die Barlach-Gedenkstätte, den Weihnachtsmarkt und den Dom in Güstrow zeigen. Die Aktuelle Kamera berichtete ausführlich darüber.

»Aktuelle Kamera«: Bericht über den Staatsbesuch von Helmut Schmidt in der DDR. 13.12.1981 (IDNR 168592)

Doch die Nachrichtenbilder täuschen. Ein Kontakt mit der DDR-Bevölkerung kam nicht zustande. Der Bundeskanzler traf auf keine »normalen« Bürger, sondern auf ausgewählte Statisten. Der Historiker Heinrich August Winkler beschreibt den Schmidt-Besuch in Güstrow in »Der lange Weg nach Westen II« (2004, S. 384) wie folgt: »Die SED-Führung (…) fürchtete (…) nichts so sehr wie eine Wiederholung jener spontanen Sympathiebekundungen, wie sie Willy Brandt im März 1970 in Erfurt zuteil geworden waren. Infolgedessen hatte das Ministerium für Staatssicherheit dafür gesorgt, dass Schmidt am Nachmittag des 13. Dezember nicht mit der Bevölkerung von Güstrow in Berührung kam, sondern lediglich mit einem riesigen Polizeiaufgebot und sorgfältig ausgewählten Statisten, die Erich Honecker zujubelten. Tausende von Bürgern hatten sich schriftlich verpflichten müssen, ihre Häuser nicht zu verlassen, solange der Kanzler in Güstrow weilte. Die gespenstischen Bilder aus Mecklenburg führten aller Welt vor Augen, wie wenig ›normal‹ die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR waren.« Andere sprechen von der Güstrower »Staatssicherheits-Show«, einer Scheinwelt oder einem absurden Theater, das hier dem Bundeskanzler geboten wurde.

In der Hauptausgabe der »Aktuellen Kamera« hatte der Staatsbesuch Schmidts erwartungsgemäß eine Sonderstellung. Die von der Zuschauerforschung des DDR-Fernsehens ermittelten Quoten ergaben für den 11. Dezember 36,2 Prozent, den 12. Dezember 36,1 Prozent und für den 13. Dezember 50,5 Prozent Sehbeteiligung. Das waren Spitzenwerte, lag doch die durchschnittliche Sehbeteiligung für die 19.30-Uhr-Ausgabe der »Aktuellen Kamera« in dieser Zeit zwischen sieben und 18 Prozent.

Helmut Schmidt besuchte Güstrow noch einmal, und zwar am 12. Februar 1990. Bei einer von der SPD organisierten Kundgebung traf er dieses Mal auf eine jubelnde Menschenmenge. Während seiner Rede vor den Kundgebungsteilnehmern betonte der Altbundeskanzler, dass er es sich seit 1981 gewünscht habe, den Bewohnern von Güstrow wirklich zu begegnen: »Heute stehen die Türen sperrangelweit offen, und sie sollen nie wieder zugemacht werden.« Über diesen zweiten Güstrow-Besuch Schmidts berichtete die »Aktuelle Kamera« am 12. Februar 1990.

Jörg-Uwe Fischer

»Aktuelle Kamera«: Bericht über die Kundgebung der SPD in Güstrow. 12.02.1990 (IDNR 046574)

Literatur-Tipp

  • Jost A. Bösenberg, Die Aktuelle Kamera: Nachrichten aus einem versunkenen Land

 

Online-Tipps

  • Die Zuschauerforschung des DDR-Fernsehens: Sehbeteiligungskartei (1965-1990) zur DRA-Datenbank
  • SWR2 Archivradio: »Staatsmann und Ikone« ARD Audiothek